Was wirklich wichtig ist, ist nicht messbar und wird spürbar erst, wenn der Verlust droht...

Und wenn ich morgen
weiter lebe...

Mir ist es wichtig, meinen Tag mit einem Espresso zu beginnen. Oder so: mir ist Gastfreundschaft sehr wichtig, das Willkommen-heißen... Wenn ich mir aber vorstelle, dass ich morgen sterben würde, wird mir vermutlich mein Espresso nicht mehr so wichtig sein. Oder doch? Und wenn ich wissen würde, morgen geht die Welt zu Grunde – werden dann die Gäste noch eine Rolle spielen [1] ?
Unsere Werte haben Bedingungen. Sie kommen aus der Kindheit, in der wir in eine Kultur, in ein soziales Umfeld, in die Wertevorstellungen unserer Eltern eingebettet werden. Unsere Werte wachsen und werden umgebaut, wie der Kölner Dom, in der Pubertät, in der Jugend, immer weiter und weiter... Und sie enden nicht, denn wir geben sie schön an unsere Kinder weiter, an unsere Schüler oder an die Nachbarskinder, wenn wir über den Zaun schreien, dass es sich nicht gehört, die Kirschen zu klauen.

Was uns wichtig ist, das wollen wir, dass es den flüchtigen Alltag überdauert. Wenn uns Musik wichtig ist, so werden wir Zeit darin investieren, vielleicht sogar ein Leben lang. Und trotzdem unterliegen unsere Wertehaltungen den Bedingungen zeitlicher Knappheit. Wir sind endliche Wesen und können nicht alles gleichermaßen wichtig nehmen. Manches muss uns schlicht egal sein. Wichtig ist das, wofür wir Sorge tragen wollen, - sagt der amerikanische Philosoph Harry Frankfurt. Für etwas zu sorgen bedeutet, sich darum zu kümmern, Zeit und Mühe zu investieren. Geschenke einzupacken, oder gar ganz lange an den Menschen zu denken, wie er so ist, was für ihn in seiner Welt wichtig ist, bevor man ihm ein Geschenk kauft oder bastelt. Nicht irgendeines. Wie habt ihr Weihnachten verbracht? Was habt ihr verschenkt? Was war von wirklichem Wert?

Je weniger Zeit wir haben, umso weniger können wir uns um andere Menschen oder Dinge sorgen. Eines der Kernprobleme unseres heutigen Lebens besteht vielleicht darin, dass wir zumindest gefühlt immer weniger Zeit haben, uns um Dinge und Menschen zu kümmern, die uns am Herzen liegen, - lese ich bei Thomas Vašek. Und denke: ja! Wenn wir keine Zeit mehr haben, Freunde zu treffen, Musik zu hören oder Bücher zu lesen, dann hören wir aber auch irgendwann auf, diese Menschen oder Dinge wirklich wichtig zu nehmen.

Wie können wir feststellen, was uns „wirklich wichtig" ist? Die Philosophen schlagen vor, uns für einen Augenblick vorzustellen, dass wir morgen sterben. Unsere Werte sind bedingt durch unser Leben und durch das Leben unserer Geliebten nach unserem Gehen. Wenn mein Leben morgen zu Ende gehen sollte, werde ich heute mit meinem Sohn in den Wald gehen? Und wenn ich erst in einem Monat sterben würde, würde ich dann vielleicht noch schnell überlegen, was ich noch so Wichtiges zu erledigen habe. Und wenn ich weiß, dass ich morgen sterben könnte, aber es höchstwahrscheinlich nicht tue, kann ich vielleicht trotzdem mit meinem Sohn in den Wald gehen und Dinge tun, die tatsächlich „wichtig sind". „Also los, schreiben wir Geschichten, die wir später gern erzählen", - spricht die geniale Juia Engelmann.

Das Wertvolle gewinnt für uns seinen Wert durch den drohenden Verlust. Wir beginnen an die Gesundheit zu denken erst wenn uns etwas Weh tut. Wir fangen an Beziehungen zu retten, wenn plötzlich Risse zu sehen sind. Wir fangen an die Kindheit zu schätzen, wenn unsere Kleinen ihren Führerschein machen. Wir setzen uns hin und wollen was für uns tun: wann eigentlich?

Eine Frage: habt ihr alle Listen für das kommende Jahr gemacht, was ihr schaffen wollt und euch vornimmt? Schließt alle eure Listen und Fenster auf den Desktops, schaltet alle Geräte aus und sagt euren Lieben: ich möchte mit dir rausgehen. Und lauft einfach eine halbe Stunde OHNE Sinn und Ziel – einfach so, im Sein. Und fragt euch: was ist mir wirklich wirklich wichtig? Was ist für mich wertvoll? Du? Ich?


[1] Dieser Artikel ist durch Thomas Vašek. Der Tod steht uns gut // Hohe Luft, Ausgabe 1/2015 inspiriert.
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