"Wir haben uns in einem Seminarhotel in Lienen kennengelernt, als ich zu meinem eigenen Hoffman Prozess im März 2006 kam. Bei der Ankunft ging ich in einen Raum hinein, der recht groß und warm wirkte. Ein Kamin war da und gemütliche, spießige alte Sessel. Holger kam durch die Tür aus der Küche heraus, wo eigentlich keine „Gäste“ hingehören. [...]

[...] Ich war 27, verheiratet, ein Kind von 1,5 Jahren, ich hatte 40 Seiten meiner Biografie in den Vorbereitungsunterlagen zum Hoffman Prozess beschrieben. Die Trainer wussten von meinen Selbstmordversuchen in der Kindheit, von der Vergewaltigung in der Jugend, sie wussten von der Verzweiflung in meiner Ehe und von der Blindheit in der Selbstfindung. Und ich fühlte mich so wahnsinnig verletzlich und trug durchgehend in den ersten Tagen des Kurses meine Maske aus Arroganz, Skepsis und Frechheit. Ich war klug und gebildet, sehr jung und verloren, zerrissen".

"Aus der Klapptür der Hotelküche kam ein Mann von etwa 50 Jahren heraus: Kordhose, schwarze massive Schuhe von Camper, glatt rasierter Kopf, ein tiefer Blick und ein freundliches Lächeln. „Herzlich willkommen.“

„Oha“, dachte ich und war unsicher, verloren, ängstlich und etwas frech, um meine Verlegenheit und Angst nicht zu zeigen. Ich versuchte es mit einer Lockerheit zu überspielen und kam mir dadurch noch dämlicher und unsicherer vor, als ohnehin schon.

Er wirkte gelassen und unerreichbar, nicht zu erfassen, wohl sehr freundlich, aber nicht durchschaubar – irgendwie getrennt. Er ging dann auch auf die anderen Menschen im Raum zu, die zusammen mit mir eintrafen. Er war gleich mit allen, was mich direkt etwas ärgerte, dass er keinen Unterschied zwischen mir und den anderen machte. Offensichtlich war er einer der Trainer".

"Als ich zum ersten Mal in Freiburg ankam, rannten am Bahnsteig zwei wilde Kinder. Er hatte mich ja vorgewarnt. Der Junge, 5 Jahre alt, schmiss sich immer wieder auf den Boden, aber ohne zu schreien oder irgendetwas damit erreichen zu wollen. Es schien vielmehr, dass es ihm ganz bequem so war. Das Mädchen, 9, empfing mich mit großer Neugierde und schien mich sofort in Beschlag nehmen zu wollen. Nicht so sehr, weil sie mich besonders zu mögen schien, sondern als ob sie ihr Territorium und ihren Papa markieren wollte, indem sie mich eroberte und zu kommandieren versuchte.

Ich hatte das Gefühl, ins kalte Wasser geschmissen worden zu sein, denn das Bild von wilden Kindern in meinem Kopf bezog sich nicht auf mich. Ich stellte mir eher „neutrale“, freche Pippi-Langstrumpf-Kinder vor, begegnete aber zwei Trennungskindern, die in zwei unterschiedlichen Haushalten lebten, sich an beide anpassen mussten und versucht waren, irgendwo fest zu sein, indem sie keine andere Chance hatten, als sich durchzusetzen und eigene Strategien zu entwickeln, um nicht zerrissen zu werden".

"Neben all dem, was es bei unserer Hochzeit nicht gab, waren wir sehr glücklich. Wir gingen aus dem Rathaus auf den leeren Platz in diesem kleinen Ort Dänemarks, dessen Existenz mir bis dahin nicht bewusst war. Ich drehte mich um und tat so, als würde ich einen nicht existierenden Blumenstrauß in die Luft werfen. Sabine tat so, als würde sie ihn fangen, und wir lachten und feierten.

Wir tranken einen hervorragenden Sekt aus Pappbechern direkt auf dem Platz im nieselnden Regen, aßen mit Plastikgabeln den selbstgebackenen Kuchen, den Roland, Sabines Freund, mitbrachte, und schmiegten uns aneinander. Danach fuhren wir mit einer Fähre auf die windige Insel Fanø und machten einen langen Hochzeitsspaziergang. Am Abend gab es im Hotelzimmer auf einem Couchtisch ein Festmahl für fünf Personen – mit Sushi aus dem nächsten „Sushi-Imbiss zum Mitnehmen“, der offen war. Eine schönere Hochzeit konnte ich mir wirklich nicht vorstellen.

Die Eheringe zogen wir beide seitdem nie aus – ich bis heute nicht. Holger wohl einmal, vier Jahre später in einer Klinik in Moskau, während eines CTs, als festgestellt wurde, dass bereits 60% seiner Leber zerstört waren. Was noch alles vom Krebs befallen war, erfuhren wir erst Schritt für Schritt".

"Im Krankenhauszimmer lag er, ein Venenzugang an der linken Hand, sehr ruhig, als ob er in der Zwischenzeit, solange ich nicht da war, auch für sich eine Form gefunden hatte, nur: ich wusste nicht, welche. Mein Mann kam mir wie ein schwarzes Loch meiner Aufmerksamkeit vor. Ich wollte fragen und fragen: Wo bist du? Wie geht es dir? Was fühlst du? Hast du Angst? Was brauchst du? Wie kann ich auf die beste Weise für dich da sein?

Doch jede Frage schien zu viel zu sein und auch irgendwie unpassend. Ich verlor die Grenzen zwischen mir und ihm, ich verlor meine Grenze, denn meine eigenen Bedürfnisse, Wünsche, meine Trümmer der Lebenspläne, Strukturen, Wichtigkeiten und Nebensächlichkeiten – alles rieselte wie Sand zwischen den Fingern. Sollen wir die Kinder informieren? Ja.

Ich ging nach Hause nur noch zum Schlafen und um mich frisch zu machen und kam um 8:00 Uhr morgens wieder. Tagsüber ging ich einmal weg, kaufte bei Alnatura ein, beeilte mich immer sehr, lief nach Hause, kochte, verpackte alles in Thermo-Boxen und lief zurück ins Krankenhaus, damit er etwas Leckeres zum Essen bekam. Wir informierten Familie, Freunde, das Team. Ich schrieb Texte, beantwortete die Nachrichten, führte Personalgespräche mit den Angestellten, formte eine Haltung gegenüber den Klienten und der Öffentlichkeit. Informieren, ohne zu beunruhigen, doch aufrichtig sein. Tagsüber waren Ärzte, Untersuchungen, stundenlange Wartezeiten auf jeden nächsten Schritt; abends und nachts – arbeiten im Büro, und am nächsten Tag von vorne".

"Das Schwierigste für mich war wahrscheinlich die Hilflosigkeit. Ich saß in einer Krankenstation, seine Hand lag auf meinem Knie, er döste, ich hatte einen Computer auf dem Schoß und arbeitete ein wenig, las ihm Geschichten von Anton Tschechow vor, er schlief ein, ich schaute aus dem Fenster.

Ich hatte Glück, ich sah oft das Grün aus den Fenstern der Orte, an denen ich landete. Momentan war da eine riesige alte Platane. Ein Eichhörnchen sprang auf den Ästen.
Abgesehen von den minimalen Handlungen: ihm gekochten Reis und etwas Gemüse zu bringen, den Korridor geradeaus und nach links zur „Quelle“ zu gehen, um seine Flasche mit kaltem, wohlschmeckendem Quellwasser zu füllen, ihm stündlich Tabletten zu geben, den Arzt zu bitten, den Tropf mit künstlicher Ernährung umzustellen — konnte ich wenig anderes tun.

Wenn ich ihn fragte, antwortete er nur: „Du musst nichts machen, bleib einfach noch etwas da.“ Ich saß neben ihm. Seit Dienstag. An dem Tag war, glaube ich, Sonntag..."

Er war recht klar und bat nun, sich anzuziehen und ins Wohnzimmer zu rollen. Wir versammelten uns alle um ihn herum auf dem Sofa und wechselten uns ab. Keiner von uns wusste, wie es jetzt alles wird. Offensichtlich, war der Tod schon sehr nah, aber Holger so fidel, dass das alles nicht zusammenpasste.

„Ok. Was soll ich jetzt tun? — fragte er mich. — Soll ich jetzt langsam oder schnell machen?“ — „Ich weiß es nicht. Ich glaube nicht, dass du es machen kannst. Ich habe kein Protokoll, mein Schatz. Ich weiß nicht, wie sowas geht“. „Ok, — wiederholte er. Und jetzt?“

Ich wusste es nicht. Keiner wusste es. Man weiß ja wirklich nicht, wie sowas geht… Aus den Filmen kennt man nur Ausschnitte, aber nicht die lange Zeit davor. Was passiert in dieser Zeit? Man habe sich verabschiedet, man habe alles gesagt, was gesagt werden musste, sich umarmt, geküsst. Und dann geschieht nichts. Und dann? Warten, bis man stirbt? Sprechen, obwohl alles gesagt ist? Wie macht man´s denn? Wir legten Musik auf und waren einfach nur da. Kinder sprachen miteinander, mit Holger, so gut es ging".