Unsere eigene Kindheit können wir nicht mehr ändern, aber unser wahres Wesen entfalten. Es besteht nicht aus den Kostümen, die wir gelernt haben zu tragen...

Bevor die Scham kam

Erinnern Sie sich eigentlich, wer sie wirklich sind? Was ist Ihre erste Erinnerung, wenn sie an sich selbst denken? Da tauchen bei allen Menschen Bilder von alltäglichen oder besonderen Ereignissen auf, die meisten dieser ersten Erinnerungsbilder stammen aus der Zeit ab dem 4. Geburtstag. Was aber war davor? Und wer bin ich, wenn ich alle meine Schichten und Panzer ablege?

Und wie bin ich? Eine starke Frau oder eine, die irgendwie grund-falsch ist? Ein Mann von klarem Format oder eigentlich ein ängstlicher kleiner Junge? Solche radikalen und oft auch widersprüchlichen Empfindungen sowie die ganze Palette von Selbstzuschreibungen mit Zwischentönen kennt jeder. Es ist eine sehr spannende Reise, heraus zu finden, wie und wer ich tatsächlich war und tief in meinem Herzen immer noch bin, bevor ich gelernt habe, mich zu verstecken, bevor ich mir Verhaltenssysteme und Muster zugelegt habe, um geliebt und gesehen zu werden.

Im Laufe des Lebens legen wir uns Schutz-Schichten wie Zwiebeln, um uns zu schützen, um nicht beschämt zu werden. Eine Panzer-Schuppe nach der anderen umhüllt unser freies offenes, unbefangenes Ich. Diese Umhüllung beginnt mit den ersten Reaktionen unserer Mutter, wenn sie mit uns unzufrieden war, uns in unserem puren Sein ablehnte, unser Verhalten nicht billigte. Beschämung seitens der Eltern weckt in einem Kind die Scham – das Kind spürt, dass es so, wie es ist, irgendwie nicht richtig ist. Das Kind lernt, sich zu verstellen, Rollen anzunehmen, die den Eltern besser passen, lernt, sich im Kleinen und im Größeren zu verraten. Das Kind entwickelt Taktiken, es versteckt sein wahres Ich immer tiefer, es entwickelt eine ganze Reihe von kompensatorischen Handlungen und Bedürfnissen, die später zu Zwängen und Süchten werden können.

Auf der Suche nach dem eigenen Kern kommen wir nicht drum herum, diese Schichten eine nach der anderen in unserer Betrachtung abzulegen, um das zu finden, was wir unseren Wesenskern nennen könnten, was wir mit auf die Welt brachten und was tief in uns vergraben darauf wartet, ent-wickelt zu werden.

Nur wie verhält es sich mit der Erinnerung und wie sehr können wir uns auf sie verlassen?

Warum erinnern wir uns heute nicht bewusst an diese ganz frühen und so sehr prägenden Ereignisse?

Wissenschaftler belegen, dass Babys von Geburt an in der Lage sind, visuelle Informationen über die Umwelt zu codieren und zu speichern (so z.B. die amerikanische Psychologin Marion Perlmutter). Neugeborene, die eine "normale" Schwangerschaftsdauer von ca. 35 Wochen hinter sich haben, können gewohnte Stimuli von unbekannten unterscheiden – das beweist, dass die Wahrnehmung und die primäre Reflektion über die Außenwelt bereits bei einem Fötus vorhanden sind. So unterscheiden etwa Neugeborene die Stimmen der eigenen Mutter von jeder anderen fremden Stimme.

Die noch nicht geborenen Kinder nehmen die Stimmen wahr, aber auch die Stimmungen der Eltern. Die Erfahrungen aus dem Mutterleib werden in die Außenwelt mitgenommen und bilden im kindlichen Hirn das erste Raster für die Welt-Wahrnehmung. Dieses Raster wird immer weiter mit sich wiederholenden und neuen Erfahrungen gefüllt und schafft eine Basis für das tatsächliche Ich-Bewusstsein und die tatsächlichen Erinnerungen.

Die Entwicklungspsychologin Katherine Nelson stellte eine Hypothese auf, die erklären sollte, warum unsere ersten Erinnerungen verloren gehen, warum es die kindliche Amnesie gibt: „Zunächst sammelt das Gedächtnis einzelne neue Erfahrungen. Diese setzen bei ihrer Wiederholung die Entwicklung von allgemeinen Scripts in Gang – so lange, bis schließlich auch einzelne Ereignisse erinnert werden können. Das erklärt, wieso wir als Erwachsene keine spezifischen autobiographischen Erinnerungen aus der Zeit vor dem vierten Lebensjahr haben können. Solche Erinnerungen können sich erst formen, wenn eine ausreichende allgemeine Basis von Ereigniswissen aufgebaut worden ist". Die Kinder erleben, erfahren, speichern und wiederholen, bis ein Raster da ist, in das weitere neue Erfahrungen einsortiert werden können. Mit den ersten sicheren Sortiervorgängen beginnt unsere Erinnerung.

Und obwohl wir diese nicht bewusst erinnern können, bleiben die Erfahrungen der ersten Jahre – auch später bis zur Pubertät - ausschlaggebend für Formung unserer Persönlichkeitsstruktur, für unser Gefühl für uns selbst und die Welt um uns herum. Die Psychologen Jeffrey Farrar und Lauren Fasig an der Universität von Florida sowie Melissa Welch-Ross von der Georgia State Universität befragten Eltern und Kinder nach ihren Erinnerungen. Die Auswertung ergab, dass Kinder und Erwachsene mit unsicherer Elternbindung Schwierigkeiten hatten, zusammenhängende Geschichten zu erzählen. Sie versuchten, negativen Erlebnissen auszuweichen, ignorierten diesbezügliche Fragen oder stockten während des Erzählens. Befragte aus sicher gebundenen Beziehungen setzten sich dagegen souveräner mit unangenehmen Erinnerungen auseinander und integrierten sie in ihre Erfahrungen. Was sagt uns das?

Jedes Kind erlebt im Laufe seiner Kindheit schmerzvolle Erfahrungen von Zurückweisung, von Verlust und Kränkungen, mangelnder Liebe und fehlender Aufmerksamkeit, denn es gibt keine perfekten Eltern. Interessant ist, dass es nicht nur die Menge solcher Erlebnisse prägend ist, sondern auch die Art der Beziehung zu Hause, in welche diese Erlebnisse eingebettet waren. Die Kinder, die einen klaren und nahen Kontakt zu ihren Eltern genießen können, verarbeiten negative Erlebnisse selbstbewusster und können diese viel besser in ihr Leben integrieren, als solche, deren Beziehung zu Hause von Gleichgültigkeit, Unsicherheit und Willkür verweht ist.

Auf der Suche nach dem Ich begegnen wir also unvermeidlich auch unseren Eltern. Wir können zwar die ersten Wahrnehmungen nicht erinnern, aber wir tragen das Wissen darum in uns, unser Leben lang. War ich ein gewünschtes Kind? Und fühle ich mich heute auf der Welt willkommen? Unterstützten meine Eltern meine Entwicklung? Wie? Welche Erwartungen stelle ich heute an mich? Wie kreiere ich mir selbst Stress – die Dissonanz zwischen meinen eigenen Erwartungen und der Realität? Die eigene Kindheit können wir nicht mehr ändern, aber unser wahres Wesen entfalten. Es besteht nicht aus diesen Mustern, die wir wie Kostüme tragen, um geliebt zu werden. Unser Wesen tief drinnen ist frei von Erwartungen und Zwängen.

Die eigene Kindheit können wir nicht mehr ändern, aber die Kindheit unserer Kinder. Wir gestalten von Geburt an mit, welches Bild sie von sich selbst gewinnen, wie sie die Welt und sich darin sehen und annehmen werden. Wir prägen ihr Selbstbewusstsein durch unsere Beziehung mit ihnen, und sie wissen davon so wenig, wie Fische vom Wasser, das sie umhüllt.

Eine wunderbare Anregung des Entwicklungspsychologen Werner Deutsch für alle Eltern lautet: Halten sie mithilfe von Tagebüchern oder Bilderportfolios die Entwicklungsschritte und Erlebnisse ihrer Kinder fest, schauen Sie diese ab und zu gemeinsam an und sprechen Sie mit den Kindern darüber. Selbstverständlich wird dennoch vieles in Vergessenheit rutschen, doch im Unbewussten bleiben einige der schon als Kind gewonnenen Repräsentationen als Grundstruktur des Denkens und Fühlens erhalten. Indem das Kind über seine eigenen Erfahrungen nachdenken und sie aus der jeweiligen persönlichen Entwicklungsperspektive neu bewerten kann, können sie zu Bausteinen des sich entwickelnden Selbstkonzepts werden. Laut Katherine Nelson kommt es zu einer Art Initialisierung des Ich, denn das Kind spürt recht bald, dass sich seine eigene Sicht der Dinge von der Erwachsenenperspektive unterscheidet: „diese Spannung ist es wahrscheinlich, die für die Individualität der jeweiligen Ziele und Fortschritte sorgt".


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