Das dritte große Thema ist die Einsamkeit, Depression, die Sehnsucht nach Verbundenheit und das Thema Beziehungsunfähigkeit.
Wir wachsen im Bauch unserer Mutter heran in einer selbstverständlichen Verbundenheit. Die ersten 9 Monate im Bauch der Mutter und weitere 5-6 Monate nach der Geburt nehmen wir uns erst gar nicht als getrennt von ihr wahr. Wir kommen also aus dem Gefühl, ein Teil von etwas Größerem zu sein, von der Mutter zunächst, später von der Welt (8). Unser Gehirn ist sehr plastisch und mit einer großen Zahl von Nervenzellen und damit möglichen Verknüpfungen (Synapsen) ausgestattet. Das versetzt uns in die Lage, uns Sichtweisen und Strategien anzueignen, um unser Überleben zu sichern, d.h. zunächst sicher zu stellen, wie wir die notwendige Aufmerksamkeit und Liebe unserer Mutter bekommen. Im unglücklichen Fall erleben wir bereits im Mutterbauch, wenn sie uns z.B. nicht haben wollte, oder spätestens in der Außenwelt, wenn wir Ablehnungen und Zurückweisungen erfahren, die Einsamkeit, ein existenzbedrohendes Gefühl von Ungewollt-Sein und Unverbundenheit.
Nun sind wir als Erwachsene nicht mehr darauf angewiesen, gefüttert und gewärmt zu werden, geliebt zu werden aber schon. Und die Taktiken bleiben die gleichen.
Außerdem besitzt unser Gehirn zwei gegensätzliche Tendenzen. Einerseits wollen wir durch die angeborene Plastizität und das Überangebot an möglichen synaptischen Verschaltungen soviel wie möglich lernen, kooperieren und uns anpassen, was im Wesentlichen bis zum 10-12 Lebensjahr in unserer Persönlichkeitsstruktur geschieht (9) und uns lebenslang als Fähigkeit erhalten bleibt. Andererseits ist die Funktionsweise des Gehirns, wie die jedes anderen Systems auch, darauf ausgelegt, möglichst wenig Energie zu verbrauchen. Wenn ein Mensch liegt, sich nicht bewegt und an nichts denkt, verbraucht seine Gehirnaktivität bereits im Ruhezustand 20% der produzierten Körperenergie (10). Wenn er nun anfängt, an etwas zu denken, steigt der Energieverbrauch rapide nach oben. Das ist die Erklärung dafür, warum unsere Muster so zäh sind – wir sind es gewohnt, so und nicht anders zu handeln, uns so zu fühlen oder so zu denken. Das verbraucht weniger Energie, als wenn wir etwas Neues ausprobieren würden. Fatal ist nur, dass wenn wir immer gleich handeln, also immer den gleichen Weg zum Fernseher zurücklegen, die gleichen Chips aus dem gleichen Regal holen und Tag für Tag möglichst so wenig wie möglich Abweichungen von den gewohnten Abläufen erleben, wird unser System immer starrer. Das führt dazu, dass wenige neue neuronale Verknüpfungen gebildet werden und die Bereitschaft, diese zu bilden immer geringer wird, sodass im höheren Alter, die Gefahr höher wird, an Demenz zu erkranken.
Faszinierend ist die sogenannte Nonnenstudie. Manfred Spitzer erzählt sie gerne in seinen Vorträgen. Auch Gerald Hüther beschreibt sie in seinem Buch „Raus aus der Demenzfalle". Etwa 600 Frauen, über 70-jährige Nonnen aus verschiedenen Klöstern wurden über Jahrzehnte lang jährlich untersucht – man wollte das Geheimnis entdecken, wie es ihnen gelang, so klar und fidel zu bleiben. Die dann bei den verstorbenen Nonnen durchgeführten Untersuchungen der Abbauprozesse im Gehirn ergaben jedoch, dass dort ebenso häufig degenerative Veränderungen nachweisbar waren wie bei der Normalbevölkerung (11). Der Unterschied war, dass es den Nonnen gelang, so viele neue neuronale Verknüpfungen im Gehirn zu bilden und die absterbenden durch neue zu kompensieren, dass sie im Alltag kaum beeinträchtigt waren.
Das bedeutet etwas ganz einfaches: Wenn wir uns im Laufe des Lebens mit möglichst vielen unterschiedlichen Aktivitäten beschäftigen und alle unsere Aspekte dabei mit ins Boot holen, also den Körper, den Intellekt, das Kind und das Wesen, d.h. wenn wir Sport machen und tanzen, Musik machen und Musik hören, spielen (dazu sagte mir mein Sohn, als ich es ihm erzählte – Computer spielen? – nein, Kinderspiele, Bewegungsspiele, Gesellschaftsspiele), Literatur lesen und Tagebuch oder Briefe schreiben, dann legen wir eine gute Basis für die neuroplastischen Regenerations- und Kompensationsprozesse. Und wenn wir es schaffen, in einer Welt zu leben:
- in der wir das Gefühl haben zu verstehen, was in dieser Welt geschieht ("Bewusst werden" im Hoffman Prozess, „Verstehbarkeit" bei Aaron Antonovsky (12))
- in der wir das, was wir verstanden haben, auch umsetzen und zu gestalten in der Lage sind ("Ausdruck" im Prozess, „Gestaltbarkeit" bei Antonovsky) und
- in der uns das, was wir verstanden haben und selbst gestalten, als sinnvoll erscheint ("Mitgefühl, Vergebung und Verbundenheit" im Prozess, „Sinnhaftigkeit" bei Antonovsky),
dann werden wir gesund, bringen unser Wachstums- und Entwicklungspotential zur Entfaltung und beugen der Demenz vor.
Im Hoffman Prozess durchlaufen die Teilnehmer genau diese Struktur: im ersten Schritt geht es um Verstehen, wie wir strukturiert sind, wie wir reagieren und warum. Im zweiten Schritt beschäftigen wir uns mit der Ausdrucksfähigkeit, der Kraft klar Standpunkt zu beziehen, zu Handeln und bislang unterdrückte Gefühle und Emotionen auszudrücken. Im dritten Schritt, bevor wir uns der konkreten Umsetzung des Erlebten in den Alltag widmen, geht es um den tieferen Sinn von Verbundenheit und Mitgefühl.
Der Hoffman Prozess ist ein Erfahrungsprozess mit einer Vielzahl von Aktivitäten, die neues Denken, Fühlen und Verhalten ermöglicht. Dazu gehören z.B. Bewegungsübungen wie das Tanzen. Hier erleben die Teilnehmer, wie wohl es tut, den Körper mit Musik zu bewegen und man kann beobachten, wie innerhalb einer Woche die Bewegungen immer größer und authentischer werden, als ob die Menschen zunächst lernen müssten, sich das zu erlauben. Einmal gelernt, werden diese neuen Erfahrungen als Erfolgserfahrung bewusst oder unbewusst gespeichert. Wir benutzen intuitives Malen, intuitives Schreiben, einen halben Tag beschäftigen wir uns mit dem Spielen und schaffen dadurch eine Erfahrung: Was macht mich glücklich? Daraus wird für jeden Teilnehmer ein persönlicher „Schlüssel zum Glück" formuliert. Und das Ganze geschieht in einer Gruppe – in Verbundenheit mit anderen. Sodass im Gehirn viele positive Erfahrungen abgespeichert werden: Ich bin nicht alleine, ich werde angenommen, so wie ich bin, ich darf mich zeigen und Verbundenheit leben.
(8) Hugo Lagercrantz, Die Geburt des Bewusstseins, ISBN 978-3-662-58222-0
(9) Jesper Juul, Was Familien trägt. Werte in Erziehung und Partnerschaft, ISBN: 978-3-407-22905-2, S. 14 ff.
(10) Gerald Hüther, Raus der Demenzfalle, ISBN: 978-3-442-34209-9, S. 11
(11) Die Nonnenstudie in der Originalveröffentlichung:
David A. Snowdon, Aging with Grace. What the Nun Study Teaches Us About Leading Longer, Healthier and More Meaningful Lives. Bantam Books 2001
(12) Aaron Antonovsky, Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit, dgvt-Verl. 1997