Stress,
Unzufriedenheit
und Einsamkeit

Mai 2019
Hoffman meets neuroscience




Stress, Unzufriedenheit und Einsamkeit

Hoffman meets neuroscience
Klinische Untersuchungen legen den Schluss nahe, dass bei 50-75% aller Arztbesuche Stress eine der Hauptursachen darstellt, und Stress in Bezug auf Sterblichkeit als größerer Risikofaktor eingeschätzt wird, als das Rauchen (1). Andere Studien zeigen, dass vor allem Einsamkeit zu vielen Krankheiten führen kann (2).

Was verursacht Stress? Ein einfaches Bild beschreibt die Entstehung von Stress als Diskrepanz zwischen der erlebten Realität und unseren Vorstellungen und Erwartungen, wie es sein sollte. Je größer die Diskrepanz umso größer der Stress.

Um Stress zu reduzieren, wäre es also sinnvoll, unsere Erwartungen loszulassen, was allerdings nicht bedeutet, auf große und erfüllende Visionen zu verzichten. Im Gegenteil, nur eben ohne die Erwartung, dass alles genau so eintreffen möge. Manchmal hat das Leben anderes mit uns vor, „Die Existenz ehrt unsere besten Absichten",- las ich gestern in einem Buddha-Kalender in einer Buchhandlung. Und das braucht sowohl Vertrauen als auch Handeln.

Leichter gesagt als getan: Schraube deine Erwartungen runter und verändere deine Realität. Nur wie? Die Menschen, die zu uns kommen, haben oft kein klar formuliertes Anliegen, außer, dass sie mit ihrem Leben unzufrieden sind, oft auch ohne eine konkrete Vorstellung, wie es denn anders sein könnte.

Ich habe über Jahre hinweg eine Statistik geführt, unter anderem mit der Fragestellung: Warum begeben sich Menschen auf einen Entwicklungsweg (in unserem Fall – mit welchen Anliegen gehen Menschen in die Therapie oder kommen zum Hoffman Prozess) und habe dabei folgende zentrale Themen ausgemacht:

(1) David Servan-Schreiber, Die neue Medizin der Emotionen, ISBN: 978-3-442-15353-4, S. 15
(2) Manfred Spitzer, Einsamkeit. Die unerkannte Krankheit, ISBN: 978-3-426-27676-1, S. 9

  • 1
    Ich bin mit meinem Leben nicht zufrieden
    Allgemeine Unzufriedenheit mit dem Leben, sowohl im Privaten als auch im Beruflichen, ohne konkrete Ideen für Lösungen.
  • 2
    Ich weiß, was vernünftig wäre, möchte aber etwas anderes
    Konflikte zwischen Gefühl und Vernunft und daraus resultierende Unsicherheiten, sich zu entscheiden, gesunde Grenzlinien zu ziehen oder aus ganzem Herzen Ja oder Nein zu sagen.
  • 3
    Ich fühle mich einsam
    Einsamkeit, Depression, die Sehnsucht nach Verbundenheit und die Unfähigkeit sich auf Beziehungen einzulassen, Beziehungen über eine längere Zeit aufrecht zu erhalten oder aus toxischen Beziehungen rauszugehen.
  • 4
    Mir geschieht... Unrecht
    Eine tatsächliche oder „erfolgreich kompensierte" Opfer-Haltung dem Leben gegenüber, der eigenen Geschichte, den Eltern, dem Partner usw.
Nun möchte ich einen Punkt nach dem anderen aus einer gehirnphysiologischen und praktischen Perspektive anschauen und Lösungsansätze darstellen.

1. Unzufriedenheit

Unzufriedenheit mit sich selbst und dem Leben kreiert ein ambivalentes Gefühl, also Stress. Rein physiologisch gesehen bewegt sich unser Herzrhythmus zwischen zwei Polen – Chaos und Kohärenz (3). Ein Mensch, der Gefühle wie Unzufriedenheit, Zorn, Angst, Traurigkeit oder alltägliche Sorgen und Zweifel erlebt, ist starken Pulsschwankungen ausgesetzt, der Körper stürzt in Chaos. Bei einer Studie mit mehreren tausend Menschen in leitenden Positionen, die sich generell als unzufrieden mit Ihrem Alltag beschrieben, bezeichneten über 70% sich als „erschöpft". Und 50% schätzten sich als eindeutig „ausgelaugt" ein (4).

Es ist wissenschaftlich belegt, dass sowohl der emotionale Zustand den Herzrhythmus beeinflussen kann, als auch umgekehrt, dass der Fokus auf bestimmte Gedanken unseren Herzrhythmus beeinflussen und somit auch den emotionalen Zustand verändern kann. Es geht dabei nicht so sehr um äußerliche Veränderungen im Leben, es geht nicht um den Prinzen auf dem weißen Hengst, auch nicht um einen neuen Sportwagen, die diesen Zustand verändern, sondern um tägliche Achtsamkeit und eine innere Haltung. Eine Vielzahl von Experimenten wurde durchgeführt, um herauszufinden, was denn genau notwendig ist, um einen Zustand von Achtsamkeit und Fokussierung zu erreichen. Der Arzt und Psychiater David Servan-Schreiber, Mitbegründer der Organisation „Ärzte ohne Grenzen", forschte in einem Onkologie-Rehabilitationszentrum und stellte fest, dass eine schlichte Atemtechnik zusammen mit einer bestimmten inneren Haltung wahre Wunder bewirkte (5).

(3) David Servan-Schreiber, Die neue Medizin der Emotionen, ISBN: 978-3-442-15353-4, S. 58
(4) Barrios-Choplin, McCraty, An inner quality approach to reducing stress and improving physical and emotional wellbeing at work // Stress Medicine, Bd. 13 (3), S. 193-201
(5) David Servan-Schreiber, Die neue Medizin der Emotionen, ISBN: 978-3-442-15353-4, S. 70-73

Hier eine kleine Atemübung:
Das Faszinierende an dieser Übung ist – sie dauert nur ca. 3,5 Minuten und bringt das Herz in Kohärenz und verändert den emotionalen Zustand. Und wenn Sie für sich sorgen möchten und sich diese 3,5 Minuten am Tag schenken, werden Ihr Körper und Ihr Herz lernen, immer schneller eigenständig diesen Mechanismus anzuwenden, sich bei Stress zu beruhigen und gar nicht erst dem Stress zu verfallen.

David Servan-Schreiber hat mit dem Hoffman Prozess nichts zu tun, aber diese Übung verbindet alle Aspekte, mit denen wir im Prozess arbeiten: Körper, Intellekt, Gefühle und das Wesen, einen Bewusstseinszustand von innerer Ruhe und Ganzheit.

Mit diesen vier Aspekten arbeitet der Hoffman Prozess seit über 50 Jahren. Diese Übung ist ein wesentlicher Bestandteil jeder Visualisierung, die wir im Prozess durchführen. Von solchen Visualisierungen gibt es im Prozess ca. 22. Das bedeutet, dass innerhalb einer Woche die Teilnehmer immer aufs Neue eine Erfahrung machen, selbst für ihre Herzkohärenz zu sorgen, diese Selbstfürsorge-Bahnen werden im Gehirn angelegt und gefestigt. Dies führt bei den Teilnehmern zu einem erhöhten Gefühl von Selbst-Wirksamkeit und verringert das Gefühl, ein Opfer von Stress sein zu müssen.

Faszinierend finde ich auch, dass das Wort Licht in diesem Kontext nicht einfach nur ein spirituelles Symbol ist, sondern von einem Mediziner und Psychiater als Metapher genutzt wird, um die Bereitschaft und die Ausrichtung des Bewusstseins für die Durchlässigkeit und Leichtigkeit im Gegensatz zu der gewohnten Schwere herzustellen. Auch die Metapher von Wasser, die wir in den Visualisierungen als die Vorstellung von einem „Fluss der Lebens" anbieten, ist kein beliebiges Bild, sondern schafft in unserem Bewusstsein die Ausrichtung auf das Fließen, Verbunden-Sein mit der Welt und mit anderen Menschen, ein Gegenpol zu Starre, Schock und Abgetrennt-Sein, die von traumatischen Erlebnissen im Gehirn entstehen.

Der Begriff „das Wesen", im Prozess die Essenz des Menschseins, taucht interessanterweise auch bei vielen Hirnforschern auf. Sowohl Servan-Schreiber als auch Gerald Hüther und andere sprechen von einem Zustand des Bewusstseins, der heilsam auf uns wirkt. Gerald Hüther schreibt in seinem Buch „Bedienungsanleitung für ein menschliches Gehirn": „Die höchste Stufe der Wahrnehmungsfähigkeit erreicht ein Mensch, wenn es ihm gelingt, ein Gleichgewicht zwischen Gefühl und Verstand, zwischen Abhängigkeit und Autonomie sowie zwischen Offenheit und Abgrenzung zu finden. Er muss eine Fähigkeit entwickeln, sich einer bestimmten Wahrnehmung voll und ganz zu widmen, die inneren Bilder zu einem ganzheitlichen Bild verschmelzen zu lassen. Dabei darf er nicht selbst vor Begeisterung über diese Empfindung „dahinschmelzen", sondern er muss sich wieder davon lösen können und sie doch fortan in sich bewahren" (6). Das entspricht der Beschreibung des Wesens, wie wir es im Hoffman Prozess verwenden, ein Zustand, den die Teilnehmer in verschiedenen Übungen erleben und stärken. Die Fähigkeit, diesen Bewusstseinszustand in sich immer wieder hervorzurufen und sich damit verbunden zu fühlen, führt zu einem gesteigerten Zufriedenheitsgefühl, dem Gefühl von Ruhe und Eins-sein mit sich und der Welt.

(6) Gerald Hüther, Bedienungsanleitung für ein menschliches Gehirn, ISBN: 978-3-525-01464-6, S. 106

2. Dissonanz zwischen den Gefühlen
und der Vernunft

1. Das zweite große Thema ist die Dissonanz zwischen den Gefühlen und der Vernunft, die uns oft innerlich zerreißt, uns hemmt, Entscheidungen zu treffen, und uns nicht selten in eine Starre versetzt, übermannt von zwanghaften Gedanken- oder einem Gefühls-Koma.

Wir alle werden mit einem plastischen Gehirn geboren. Evolutionsbedingt war der Mensch in nichts besonders gut – in einer Wildnis voller Gefahren war der Menschenaffe weder besonders schnell, noch waren sein Sehen oder Riechen sehr ausgeprägt, fliegen konnte er schon mal gar nicht, und schwimmen – nun ja... Um zu überleben, entwickelten wir also mehrere Tricks, die eindeutig zum Erfolg führten. Zum einen war das die Erfahrung, dass man als Gruppe wesentlich größere Chancen hatte, als als Einzelperson – durch die unterschiedlichen Qualitäten der Einzelnen konnte sich die Gruppe als „stärkerer" Gegner in der Wildnis behaupten. Zum anderen, entwickelte sich ein weiterer Teil des Gehirns, wie eine Art „Überbau, - der Neokortex, der für Sprache, Vernunft und verschiedene Kontrollmechanismen verantwortlich wurde.

Ein Feldhase grast, dann stellt er die Ohren steif und lauscht, ob es irgendwelche Gefahren gibt. Dann grast er weiter. Im Fall einer Gefahr, hat ein Hase 3 Möglichkeiten um zu reagieren: Angriff, Flucht oder Erstarrung, sich Tot-Stellen. Das hat er dem limbischen System zu verdanken, das wir Menschen wie auch alle Säugetiere besitzen. Vereinfacht dargestellt, ist das limbische System ein Gehirn im Gehirn, das aus einem Nervengewebe besteht, das sich von dem der für Sprache und Denken verantwortlichen Hirnrinde unterscheidet. Man könnte sagen, dass das limbische System für Gefühle und Überlebens-Reaktionen zuständig ist. Dahinter befindet sich die Amygdala, der Mandelkern, das sogenannte Reptilien-Gehirn, von dem unter anderem alle Angstreaktionen ausgehen.

Ob unser Zustand von den Impulsen aus dem emotionalen Gehirn oder dem kognitiven Teil des Gehirns (Neokortex) geprägt wird, ist uns meistens unbewusst. Es wirkt sich oft in einem "entweder-oder" aus. Sprache sowie Wahrnehmung und Erkennung haben nur begrenzten Einfluss darauf. Wir können einem Gefühl nicht befehlen, stärker zu werden oder zu verschwinden. Und das stellt für uns ein Problem dar – den Konflikt zwischen den Gefühlen und der Vernunft, oder zwischen dem inneren Kind und dem Intellekt, wie wir diese zwei Aspekte im Hoffman Prozess nennen. Und dieser Konflikt lässt sich nicht einfach abstellen.

Emotional zu wachsen bedeutet zu lernen, einen Dialog zwischen diesen beiden Gehirnarealen zu üben und sie im Optimalfall miteinander in Einklang zu bringen. Anders formuliert, heißt die Aufgabe, den dort gespeicherten Gefühlen und alten Erfahrungen, wir nennen das „das innere Kind", also dem emotionalen Gehirn, beizubringen, sich in einer gegebenen Situation an der tatsächlichen Gegenwart zu orientieren, anstatt die alten gelernten Musterreaktionen immer aufs Neue abspulen zu lassen. Das bedeutet zu lernen, auf die Gegenwart „konstruktiv" zu reagieren, anstatt Vergangenes automatisch zu wiederholen.

Jeder von uns hat eine Vielzahl von mehr oder weniger traumatischen Erfahrungen aus der Kindheit im emotionalen Gehirn gespeichert, die unser Verhalten heute immer noch prägen. Um diese Traumata zu heilen, arbeitet der Hoffman Prozess auf vielen Ebenen. Nehmen wir zum Beispiel eine zentrale Technik aus dem Hoffman Prozess, das Recycling. Sie dient dazu, eine vergangene Szene in die Gegenwart zu holen und „umzuprogrammieren". Diese Übung beginnt damit, dass der Teilnehmer seine Aufmerksamkeit seinem Atem widmet, und dadurch zunächst eine Herzkohärenz herstellt. Dann gehen wir in die Vergangenheit und arbeiten über die Körperwahrnehmung emotional belastende Erfahrungen aus der Kindheit heraus (ein Element, ähnlich wie in NLP oder im SE nach P.A. Levine), wir stellen uns vor, wir nehmen dieser Erfahrung aus dem Körper heraus zerreiben sie (ein Element, das durch EMDR gut erklärt wird (7) ), danach lassen wir sie wieder in den Körper rein, wir binden dieses Erleben in die Gegenwart ein und verankern das positive Gefühl im Körper (wieder ein Element aus EMDR, bzw. SE).

Interessant ist es, dass der Hoffman Prozess diese Elemente schon Jahrzehnte vor NLP und EMDR im Rahmen des Recyclings benutzte. Später wurde wissenschaftlich erklärt, was genau bestimmte Abläufe in unserem Gehirn auslösen und warum sie wirksam sind.

Ein halber Tag im Prozess ist dem Dialog zwischen Gefühlen und Verstand gewidmet. Hier fließen Ergebnisse der Gehirnforschung in eine Übung ein, die dazu dient, eben diese beiden Teile (Neokortex und emotionale Gehirn) quasi miteinander ins Gespräch zu bringen. Die beiden Teile treten in der Vorstellung als Inneres Kind und Intellekt in ein Streitgespräch und bekommen die Möglichkeit, sich endlich auszutauschen: jeder kann seine Position erklären und seine Bedürfnisse äußern, jeder wird gehört und ernst genommen. Sie wechseln die Perspektive und schließen eine Art „Waffenstillstand". Nach dieser Übung erleben die Teilnehmer eine überraschende Stille und innere Harmonie. Auch hier machen sie eine wertvolle Erfahrung: ICH bin selbstwirksam, ich kann diese Stille herbeiführen.

(7) EMDR – Eye Movement Desensitization and Reprocessing.
Francine Shapiro, EMDR in Aktion: Die Behandlung traumatisierter Menschen. 1998

3. Einsamkeit

Das dritte große Thema ist die Einsamkeit, Depression, die Sehnsucht nach Verbundenheit und das Thema Beziehungsunfähigkeit.

Wir wachsen im Bauch unserer Mutter heran in einer selbstverständlichen Verbundenheit. Die ersten 9 Monate im Bauch der Mutter und weitere 5-6 Monate nach der Geburt nehmen wir uns erst gar nicht als getrennt von ihr wahr. Wir kommen also aus dem Gefühl, ein Teil von etwas Größerem zu sein, von der Mutter zunächst, später von der Welt (8). Unser Gehirn ist sehr plastisch und mit einer großen Zahl von Nervenzellen und damit möglichen Verknüpfungen (Synapsen) ausgestattet. Das versetzt uns in die Lage, uns Sichtweisen und Strategien anzueignen, um unser Überleben zu sichern, d.h. zunächst sicher zu stellen, wie wir die notwendige Aufmerksamkeit und Liebe unserer Mutter bekommen. Im unglücklichen Fall erleben wir bereits im Mutterbauch, wenn sie uns z.B. nicht haben wollte, oder spätestens in der Außenwelt, wenn wir Ablehnungen und Zurückweisungen erfahren, die Einsamkeit, ein existenzbedrohendes Gefühl von Ungewollt-Sein und Unverbundenheit.

Nun sind wir als Erwachsene nicht mehr darauf angewiesen, gefüttert und gewärmt zu werden, geliebt zu werden aber schon. Und die Taktiken bleiben die gleichen.

Außerdem besitzt unser Gehirn zwei gegensätzliche Tendenzen. Einerseits wollen wir durch die angeborene Plastizität und das Überangebot an möglichen synaptischen Verschaltungen soviel wie möglich lernen, kooperieren und uns anpassen, was im Wesentlichen bis zum 10-12 Lebensjahr in unserer Persönlichkeitsstruktur geschieht (9) und uns lebenslang als Fähigkeit erhalten bleibt. Andererseits ist die Funktionsweise des Gehirns, wie die jedes anderen Systems auch, darauf ausgelegt, möglichst wenig Energie zu verbrauchen. Wenn ein Mensch liegt, sich nicht bewegt und an nichts denkt, verbraucht seine Gehirnaktivität bereits im Ruhezustand 20% der produzierten Körperenergie (10). Wenn er nun anfängt, an etwas zu denken, steigt der Energieverbrauch rapide nach oben. Das ist die Erklärung dafür, warum unsere Muster so zäh sind – wir sind es gewohnt, so und nicht anders zu handeln, uns so zu fühlen oder so zu denken. Das verbraucht weniger Energie, als wenn wir etwas Neues ausprobieren würden. Fatal ist nur, dass wenn wir immer gleich handeln, also immer den gleichen Weg zum Fernseher zurücklegen, die gleichen Chips aus dem gleichen Regal holen und Tag für Tag möglichst so wenig wie möglich Abweichungen von den gewohnten Abläufen erleben, wird unser System immer starrer. Das führt dazu, dass wenige neue neuronale Verknüpfungen gebildet werden und die Bereitschaft, diese zu bilden immer geringer wird, sodass im höheren Alter, die Gefahr höher wird, an Demenz zu erkranken.

Faszinierend ist die sogenannte Nonnenstudie. Manfred Spitzer erzählt sie gerne in seinen Vorträgen. Auch Gerald Hüther beschreibt sie in seinem Buch „Raus aus der Demenzfalle". Etwa 600 Frauen, über 70-jährige Nonnen aus verschiedenen Klöstern wurden über Jahrzehnte lang jährlich untersucht – man wollte das Geheimnis entdecken, wie es ihnen gelang, so klar und fidel zu bleiben. Die dann bei den verstorbenen Nonnen durchgeführten Untersuchungen der Abbauprozesse im Gehirn ergaben jedoch, dass dort ebenso häufig degenerative Veränderungen nachweisbar waren wie bei der Normalbevölkerung (11). Der Unterschied war, dass es den Nonnen gelang, so viele neue neuronale Verknüpfungen im Gehirn zu bilden und die absterbenden durch neue zu kompensieren, dass sie im Alltag kaum beeinträchtigt waren.

Das bedeutet etwas ganz einfaches: Wenn wir uns im Laufe des Lebens mit möglichst vielen unterschiedlichen Aktivitäten beschäftigen und alle unsere Aspekte dabei mit ins Boot holen, also den Körper, den Intellekt, das Kind und das Wesen, d.h. wenn wir Sport machen und tanzen, Musik machen und Musik hören, spielen (dazu sagte mir mein Sohn, als ich es ihm erzählte – Computer spielen? – nein, Kinderspiele, Bewegungsspiele, Gesellschaftsspiele), Literatur lesen und Tagebuch oder Briefe schreiben, dann legen wir eine gute Basis für die neuroplastischen Regenerations- und Kompensationsprozesse. Und wenn wir es schaffen, in einer Welt zu leben:

- in der wir das Gefühl haben zu verstehen, was in dieser Welt geschieht ("Bewusst werden" im Hoffman Prozess, „Verstehbarkeit" bei Aaron Antonovsky (12))
- in der wir das, was wir verstanden haben, auch umsetzen und zu gestalten in der Lage sind ("Ausdruck" im Prozess, „Gestaltbarkeit" bei Antonovsky) und
- in der uns das, was wir verstanden haben und selbst gestalten, als sinnvoll erscheint ("Mitgefühl, Vergebung und Verbundenheit" im Prozess, „Sinnhaftigkeit" bei Antonovsky),
dann werden wir gesund, bringen unser Wachstums- und Entwicklungspotential zur Entfaltung und beugen der Demenz vor.

Im Hoffman Prozess durchlaufen die Teilnehmer genau diese Struktur: im ersten Schritt geht es um Verstehen, wie wir strukturiert sind, wie wir reagieren und warum. Im zweiten Schritt beschäftigen wir uns mit der Ausdrucksfähigkeit, der Kraft klar Standpunkt zu beziehen, zu Handeln und bislang unterdrückte Gefühle und Emotionen auszudrücken. Im dritten Schritt, bevor wir uns der konkreten Umsetzung des Erlebten in den Alltag widmen, geht es um den tieferen Sinn von Verbundenheit und Mitgefühl.

Der Hoffman Prozess ist ein Erfahrungsprozess mit einer Vielzahl von Aktivitäten, die neues Denken, Fühlen und Verhalten ermöglicht. Dazu gehören z.B. Bewegungsübungen wie das Tanzen. Hier erleben die Teilnehmer, wie wohl es tut, den Körper mit Musik zu bewegen und man kann beobachten, wie innerhalb einer Woche die Bewegungen immer größer und authentischer werden, als ob die Menschen zunächst lernen müssten, sich das zu erlauben. Einmal gelernt, werden diese neuen Erfahrungen als Erfolgserfahrung bewusst oder unbewusst gespeichert. Wir benutzen intuitives Malen, intuitives Schreiben, einen halben Tag beschäftigen wir uns mit dem Spielen und schaffen dadurch eine Erfahrung: Was macht mich glücklich? Daraus wird für jeden Teilnehmer ein persönlicher „Schlüssel zum Glück" formuliert. Und das Ganze geschieht in einer Gruppe – in Verbundenheit mit anderen. Sodass im Gehirn viele positive Erfahrungen abgespeichert werden: Ich bin nicht alleine, ich werde angenommen, so wie ich bin, ich darf mich zeigen und Verbundenheit leben.


(8) Hugo Lagercrantz, Die Geburt des Bewusstseins, ISBN 978-3-662-58222-0
(9) Jesper Juul, Was Familien trägt. Werte in Erziehung und Partnerschaft, ISBN: 978-3-407-22905-2, S. 14 ff.
(10) Gerald Hüther, Raus der Demenzfalle, ISBN: 978-3-442-34209-9, S. 11
(11) Die Nonnenstudie in der Originalveröffentlichung:
David A. Snowdon, Aging with Grace. What the Nun Study Teaches Us About Leading Longer, Healthier and More Meaningful Lives. Bantam Books 2001
(12) Aaron Antonovsky, Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit, dgvt-Verl. 1997

4. Opferhaltung

Das vierte große Thema ist eine offensichtliche oder untergründige Opfer-Haltung der eigenen Geschichte gegenüber, gegenüber den Eltern, dem Partner etc.

Solche Menschen waren vielleicht Kinder, die bereits früh resigniert haben. Das sind Kinder, die entweder in sehr engen Verhältnissen aufwuchsen, wo die Erwartungen so hoch waren, dass sie diesen kaum genügen konnten. Oder es waren Kinder, die überbehütet wurden und zu wenige positiven Erfahrungen gesammelt haben, Eigeninitiative zu ergreifen, etwas zu erreichen, zu fallen und selbst wieder aufzustehen. Das sind die die Erwachsenen, die, wenn sie zu mir in die Therapie kommen, sagen: machen Sie mir bitte dieses oder jenes weg. Nein, sage ich, ich kann da nichts weg machen, das müssen sie schon selbst erledigen und ich kann den Weg zeigen. Oder aber das sind Kinder, die Gewalt, Misshandlung, Missbrauch oder Vernachlässigung erleben mussten und dadurch traumatisiert sind.

Über die verschiedenen Opferrollen ließe sich weit mehr schreiben. Hier nur so viel:

Alle Opfer haben eines gemeinsam, ob es sich nun um Opfer sexueller oder physischer Gewalt handelt, der Vernachlässigung oder ob das Menschen sind, die fortwährend einem emotionalen Missbrauch ausgesetzt waren, - ein Opfer wehrt sich nicht (12).

Das Leid des Opfers besteht nicht nur darin, selbst etwas Schreckliches erlebt zu haben, sondern vielmehr in dem Selbsthass und der Scham, sich nicht gewehrt zu haben. Um aus der Opferrolle auszusteigen, muss ein Opfer neben der basalen Aufarbeitung des Traumas lernen, sich zu wehren. Zwei Tage im Prozess sind genau diesem Thema gewidmet. Wie kann ich emotionale, mentale und körperliche Blockaden lösen? Die Teilnehmer, erleben im Sich-Wehren eine neu gewonnene emotionale und körperliche Kraft. Sie wehren sich gegen die imaginären Bilder, die im normalen Alltag viel belastender sein können, als die äußeren Gefahren in der Gegenwart.

Jeder verantwortungsvolle Traumatherapeut wird mir bestätigen, dass, um ein Trauma aufzuarbeiten und zu heilen, es manchmal einen langen Weg braucht, manchmal aber es plötzlich geschieht. Dank der Struktur und den Erfahrungen im Prozess wird es auf jeden Fall für jeden möglich, einen Schritt zur Heilung und die Erfahrungen in Selbstwirksamkeit zu machen, die grundlegend wichtig sind und das Leben verändern können.

(12) Eine umfangreiche Studie über Traumata ist: Bessel van der Kolk. Verkörperte Schrecken. Traumaspuren in Gehirn, Geist und Körper und wie man sie heilen kann. ISBN: 978-3-944476-13-1
Ich liebe diese Arbeit.

Da ich mich mit den Opfer-Erfahrungen leider auskenne und mich viel mit Trauma beschäftige, ist mein persönliches Anliegen, die Menschen darin zu unterstützen, diese Verwandlung zu erleben – raus aus der Opferfalle in die Selbstbestimmung. Raus aus der Einsamkeit – mit dem Mut, wieder zu vertrauen, um Hilfe zu bitten und sich verbunden zu fühlen. Zu lernen, eine innere Harmonie zwischen dem Denken und dem Fühlen herzustellen, wann auch immer das nötig ist, und zu erleben, dass ich mich nicht über die äußeren Merkmale zu definieren, innere Leere nicht über die Statussymbole zu kompensieren und auch nicht, mangels der inneren Verwurzelung mich über die Abgrenzung vom „Fremden" zu definieren brauche, sondern in mir diese dankbare und weise Ressource entdecken und nutzen kann – meine Würde und mein Wesen.


Und so arbeite ich gerne – verbunden mit mir und mit anderen, mit Euch.
Daria Markin
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