Vergeben?
November 2018

Vergeben?

Das Gefühl der Wertlosigkeit...
Im Alltag kommt es uns oft über die Lippen: „Entschuldigung, könnten Sie bitte... ?", „Pardon...", „Verzeihung..." – wir sagen es manchmal leicht dahin, ohne es zu fühlen, oft auch ohne es allzu ernst zu meinen.

Die Frage, ob wir vergeben können, beginnt für jeden früher, als man es vermuten könnte. Als Kinder nehmen wir Vieles so hin. Als Erwachsene schmerzt so Manches von damals nach... Haben wir unserem Vater verziehen, der einfach nicht da war, als wir ihn gebraucht haben? Oder haben wir diese Abwesenheit als Verhaltensmuster von ihm übernommen und ziehen uns heute selbst zurück, ignorieren unsere eigenen Bedürfnisse oder die unserer Lieben? Haben wir unserer Mutter verziehen, die Stunden oder gar Tage nicht mit uns geredet hat, nur weil wir in ihren Augen etwas Furchtbares verbrochen hatten, oder wenn sie auf uns nicht reagierte, und wir uns hoffnungsvoll nach einem Blick, einem Wort von ihr sehnten... An den eigenen Fehler erinnern wir uns nicht mehr, aber an dieses Gefühl der Wertlosigkeit, die schmerzhafte Nichtigkeit, können wir dieses Gefühl je vergessen? Können wir es ihr vergeben? Oder können wir es uns selbst vergeben, weil wir glauben, „selber schuld" gewesen zu sein?
Verletzungen gehören zum Leben
Warum müssen wir überhaupt vergeben, wenn wir enttäuscht, verletzt, getroffen und verwundet sind? Er/ sie sind doch die eigentlich Schuldigen. Die anderen, die Umstände. Oder wir verdrängen solche Situationen einfach: Es ist doch längst vorbei, Schwamm drüber...

Worin besteht denn der Wert des Vergebens?

Die Antwort darauf könnte folgendermaßen lauten:
Wahre Vergebung ist die einzige Möglichkeit nach einer Verletzung zu einem autonomen und selbstbestimmten Leben zu finden", schreibt die Philosophin Hannah Arendt

Wahre Vergebung ist grundlegend notwendig, um mit dem Schmerz weiterleben zu können, der nicht mehr rückgängig zu machen ist. Im Augenblick der Vergebung geschieht etwas Heilsames: Wir nehmen das Geschehene als Teil unseren Lebens an.

Im Augenblick des wahren Vergebens lassen wir in unserem Weltbild zu, dass der Schmerz möglich ist. Dass die Verletzung zum Leben gehört, auch zu unserem. Wenn wir aus dem Bauch heraus sagen können: Ja, das kann passieren, das ist mir auch passiert, - dann wird Heilung möglich. Dieses Annehmen ist keinesfalls Resignation, kein Zerfließen in der Opferrolle, sondern eine gelebte Weisheit: Zum Leben gehören beide Seiten, die fröhliche und die schmerzvolle, zu meinem Leben auch. Vergebung basiert auf der existentiellen Einsicht, dass keiner besser ist als der andere. Es bringt keinen Frieden, eine Hierarchie zu konstruieren, den Täter dafür zu benutzen, um selbst reiner, heller und unschuldiger, ja edler zu erscheinen.
Vergessen.
Aber auch verzeihen?
Es ist wohl unbestritten, dass jeder Mensch schon mal einen anderen verletzt hat. Aber weshalb fällt uns das Verzeihen trotzdem so schwer? Auch wenn wir die Notwendigkeit dessen intellektuell verstehen, reagieren wir oft auf Verletzungen oder Enttäuschungen irrational und verhalten uns wie damals als Kind, nicht kindlich, eher kindisch. Als Erstes greifen wir nicht selten zum Telefon. Der Mann ist fremd gegangen, die betrogene Frau ist zutiefst gekränkt, alles zieht sich innerlich vor Schmerz zusammen, und sie ruft die Freundin an. Der Schmerz verwässert in den Klagen, in der Empörung, Verurteilung. Sie erlaubt diesem Schmerz beinahe mit einem masochistischen Genuss durch ihren Körper zu fließen, vermischt mit dem getrunkenen Glas Rotwein und nicht ausgeweinten Tränen. Selten geht es darum, was tatsächlich geschah, welcher Familiensituation dieses Fremdgehen entsprang. Im Nebel des verwundeten Stolzes schaut kaum einer offen und unbefangen hin. „Wie konnte es nur passieren?" – echauffieren sich die Freundinnen. Sie echauffieren sich, sie fragen nicht wirklich. Kaum einer sucht nach einer Antwort.

Danach kaufen wir uns einen Hund, stellen die Möbel um, streichen die Wände, wir hören auf oder beginnen zu rauchen und wenn dann am Horizont doch wieder ein Sonnenstrahl aufgeht, denken wir: Jetzt können wir verzeihen und vergessen. Nun: vergessen – ja... tief drin bleiben wir weiter verletzt und sind bemüht, dies zu verbergen, auch vor uns selbst. Wir verstauen dieses Verletzt-sein tief drinnen, bis wir eine Weile später einer Situation begegnen, die schneidend der vorherigen ähnelt... Uns geschieht es. Wir haben es noch nicht vergeben.
Vergeben heißt
zurück-geben
Wir fragten am Anfang: warum müssen wir überhaupt vergeben? Eben darum, damit diese Stimmen uns nicht weiter gefangen halten, damit wir zurückgeben können und nicht länger tragen müssen, was nicht unseres ist. Im Ver-geben geben wir etwas symbolisch zurück an denjenigen, der uns das Schmerzvolle angetan hat, damit wir nicht mit der Wunde, sondern mit der Narbe weiter leben.

Die Dinge, die geschehen sind, bleiben für immer unwiderruflich, sie gehören zu unserer Geschichte. Vergebung ist ein Weg zur Freiheit, ein Akt der Stärke.

Vergebung bringt Frieden. Wenn wir tatsächlich Frieden wollen.

Aber Vergebung kann man nicht erzwingen und auch die gedachte Vergebung ist oft eine billige Vergebung.

Wie kann es also gehen?

Eines der vier Grundelemente des Hoffman Prozesses ist das Thema "Mitgefühl und Vergebung". Vergebung beginnt in erster Linie damit, unseren Eltern dafür zu vergeben, , dass sie uns auch das anerzogen haben, was uns heute an uns selbst so wenig gefällt. Und auch dafür, dass wir als Erwachsene heute vielleicht immer noch dagegen kämpfen, so zu sein, wie sie.

Erst wenn uns das gelingt, können wir uns selbst vergeben. Dafür, dass man so Einiges mit sich machen lies, für unsere Selbstablehnung, Fehlerhaftigkeit und unsere Schuld. Denn erst dann wird beim Blick in den Spiegel möglich, dass ich statt die eigene Fehlerhaftigkeit und die eigenen Mängel , etwas Wunderbares entdecke und zwar mein Wesen, meine Würde.

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