Ich weiß, dass ich gut bin, aber liebe ich mich?
Ich habe kein Problem, mich selbst zu lieben. Ich schaue in den Spiegel nach dem Duschen: ich bin fertig für den heutigen Tag, frisch, wache Augen, eine positive Ausstrahlung...

Vor ein paar Tagen räumte ich den neuen Schrank ein und sortierte alte Kisten, unter anderem die Kisten mit meinen Tagebüchern. Auch diejenigen, als ich 14 war. Ich blätterte darin. Ich erinnerte mich. Und da war es wieder – dieses Gefühl der Selbstunsicherheit, eine Unklarheit meiner Grenzen, die Angepasstheit an ein undurchschaubares Regelwerk im Elternhaus. Ich fühlte mich wieder peinlich. Ich ging am Spiegel vorbei und sah da eine erwachsene Frau, und es änderte nichts am miesen Gefühl der Angst und der Unfähigkeit, den Erwartungen zu genügen, die als emotionale und körperliche Erinnerungen binnen Minuten Oberhand gewannen. Nein, für einige Momente liebte ich mich plötzlich wieder überhaupt nicht mehr.

Wenn wir Selbstliebe sagen, reagieren Menschen oft mit „Natürlich liebe ich mich". Viele von uns tun es aber nur unter bestimmten Bedingungen. Wenn wir schön, gut gelaunt, effektiv oder ausgeglichen



sind – jeder hat seine eigene Messplanke, an der er oder sie in erster Linie sich selbst misst. Und daran messen wir auch die Anderen. Die Entwicklung der Gesellschaft verleitet uns dazu, Objekte der Industrie zu werden. Und zu Objekten von Bewertungen, sei es durch die Likes bei Facebook oder aber durch unseren eigenen inneren Vergleich mit dem, wie wir uns vorstellen, wie wir sein müssten. Objektisierung der Liebe. Die Maske wächst so fest an, dass wir sie nicht mal mehr zum Schlafen abschminken können.

Und da taucht plötzlich so ein Jugendtagebuch auf und da stehe ich – ungeschminkt, ungeschützt, verletzbar. Und anstatt Mitgefühl mit mir zu haben und mich dafür wertzuschätzen, welchen Weg ich gegangen bin – schäme ich mich für mich und lehne dieses verletze Mädchen ab. Nicht auf dem Papier – in mir selbst. Denn ich spüre, sie von damals ist immer noch da.

Kennen Sie das? In uns gibt es Aspekte, die wir nicht mögen. Unsere Anteile, die nicht erwachsen geworden sind, die in der Kindheit eingesperrt blieben, versteckt hinter dem Schwur: „Wenn ich groß bin, werde ich nie mehr..." Das Dramatische ist nur, dass solange wir dieses Kind nicht da abholen, wo wir es abgestellt und eingesperrt haben, bleibt es verletzt in uns leben und meldet sich in unerwarteten, oft unpassenden Momenten: im Gespräch mit dem Chef, im Streit mit dem Partner, im Gefühl der Einsamkeit bei einer Weihnachtsfeier...
Solange wir das Kind in uns nicht annehmen, bleibt es verletzt und meldet sich in unpassendsten Momenten
Das natürlichste auf der Welt – die Selbstliebe – ist für uns so ungreifbar geworden. Der kleine Menschenfunke im Bauch der Mutter wächst in einer vollkommenen Selbstverständlichkeit im Annehmen von sich selbst und der Umgebung, auf wärmste und natürlichste Weise verbunden mit der Mutter. Und, wenn es unglücklich läuft, erfährt er schon sehr früh die erste Ablehnung: die Mutter hat Angst, für sie ist es zu viel, sie ist selbst noch sehr jung... Wir spüren das. Unser Intellekt ist noch nicht so weit entwickelt, dass wir es verstehen könnten, aber emotional nehmen wir die Informationen wahr, unter anderem über Hormone, die das Gehirn der Mutter ausschüttet, die in den Fötus übergehen[1]. Die ersten Irritationen in der Selbstliebe.

Auch wenn wir ein gewolltes Kind waren, die Schwangerschaft wunderbar verlief und die Geburt leicht war, kommen wir nicht drum herum, im Laufe unserer Entwicklung viele Situationen erleben zu müssen, in denen wir Ablehnung erfahren. „Nicht jetzt, das kannst du noch nicht, warte mal, ich mache es für dich..." – ob zu wenig oder zu viel Aufmerksamkeit seitens der Eltern – das Selbstverständnis „Ich bin total in Ordnung so, wie ich bin" wird an die Gegebenheiten, Erwartungen, Regeln und Maße der Eltern angepasst, wir werden zu den Objekten ihrer Träume und ihrer Enttäuschungen. Ob es bei allen so ist? Sind Ihnen je ideale und perfekte Menschen begegnet? Wir sind es als Eltern nicht, egal wie sehr wir uns darum bemühen. Unsere Eltern waren es wohl auch nicht.


Und so wächst ein Kind heran, wird 10, 14. Und mit 14 schreibt es in sein Tagebuch: „Ich bin so dumm. Ich hasse mich"... Um dieses Gefühl nicht fühlen zu müssen, versucht es über Leistung, setzt sich Ziele und erreicht sie. Es wird erwachsen. Selbstliebe? Selbstliebe wird über den Erfolg definiert und gewinnt an Legitimation, gemessen an positiven Veränderungen, an der positiven Resonanz.

Wir gehen im erwachsenen Alter so mit uns um, wie unsere Eltern mit uns umgegangen sind, wie deren verlängerter Arm. Selbstkritik, Zweifel, Erwartungen und Enttäuschungen, als ob die Selbstverständlichkeit des Daseins nicht ausreichen würde, um sich genauso anzunehmen, wie wir wirklich sind, auch mal traurig und müde.

Solange wir das Kind in uns nicht akzeptieren und nicht anfangen, selbst für uns bessere Eltern zu sein anstatt von den Anderen (von den noch lebenden Eltern, Geschwistern, Partnern und Freunden) zu erwarten, sie würden unsere Grundbedürfnisse nach Liebe und Aufmerksamkeit erfüllen, - bleiben wir in der mangelnden Selbstliebe abhängig, wir bleiben Opfer der Außenwelt, Objekte für den Markt und in ständiger Kompensation und dem Wettkampf um Anerkennung. Ist es denn möglich, das überhaupt zu ändern? Das ist ein Weg, ein Prozess, das Entfalten des Lebens selbst, wie Anselm Grün das so schön sagt. Ja, es ist möglich, sich selbst zu lieben, wir konnten es auch mal.
Selbstliebe beginnt im Kleinen. Unser Gehirn ist auf Heilung ausgelegt.
Der erste Schritt zur Selbstliebe ist das Bewusstwerden und die Akzeptanz der Not des Inneren Kindes, der Mut, es wahrzunehmen. Es kann schmerzvoll sein. Denn es bedeutet, sich wieder verletzbar und auch manchmal hilflos zu fühlen. Und dazu zu stehen. Das Spüren im Körper kann uns dabei helfen, diese Not des Inneren Kindes zu erforschen und zu lindern. Auch unser Bewusstsein arbeitet für uns. Selbstliebe kann man üben.

Auf diesem Weg ist es sehr heilsam zu lernen, das ganzheitliche innere Empfinden wahrzunehmen[2]. In einer Situation, die uns unangenehm erscheint, wäre der erste Schritt der Selbstliebe, den Atem wahrzunehmen – er ist immer da, ganz von alleine, wir müssen dafür nichts tun, das Atmen müssen wir nicht verdienen. Danach den Körper wahrzunehmen, und sich zu fragen: an welchen Stellen des Körpers fühle ich eine Spannung, Kälte oder Druck? Einfach nur wahrnehmen, ohne zu bewerten oder etwas wegmachen zu wollen. Sein lassen.

Selbstliebe beginnt im Kleinen. Es macht keinen Sinn zu erwarten, dass man sich sofort tief und immer liebt. Vielmehr ist es wichtig, mit sich selbst ehrlich zu bleiben, sich selbst ein vertrauter Freund zu werden, der nicht be- und verurteilt, sich Fehler eingesteht und auch erlaubt. Auch den Mangel an Selbstliebe. Unser Gehirn ist auf Heilung ausgelegt[3], unser Bewusstsein ist in seinem Ursprung ohne jeglichen Hass oder Bewertungssystem. Als richtig und falsch, als gut oder schlecht bewerten wir die Dinge und uns selbst, aber wir sind es nicht.
Selbstliebe kann man üben. Sie beginnt in der Vorstellung, man hole das kleine Kind zu sich und höre seine Not an, ohne es zu bewerten. Das, was wir in uns selbst ablehnen, haben wir irgendwann als eine Strategie gelernt, um zu überleben. Es war notwendig, und es hat funktioniert, sonst hätten wir es nicht beibehalten. Also ist es wichtig, sich selbst zu fragen: WAS genau lehne ich in mir ab? WOFÜR war es in meiner Kindheit wichtig? Keine einfachen Fragen, aber die Antworten können sehr befreiend sein. Wenn wir uns die Not des Kindes anhören und uns erlauben, es zu fühlen, kann Heilung geschehen.

An diesem Tag mit den Tagebüchern schrieb ich einen langen Brief an das pubertierende Mädchen, das ich einmal war. Einen langen Liebesbrief, was es noch alles auf ihrem Weg erleben wird. Ich legte diesen Brief in das Tagebuch. Sie hat es gelesen, ich spürte es.










[1]Hugo Lagercrantz, Die Geburt des Bewusstseins. Über die Entwicklung des frühkindlichen Gehirns, 2019
[2]Peter A. Levin, Trauma-Heilung. Das Erwachen des Tigers. Unsere Fähigkeit, traumatische Erfahrungen zu transformieren.
[3]Gerald Hüther, Raus aus der Demenzfalle.
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