Kai war 36 Jahre alt und bereits geschieden. Das erzählte er mir am Telefon, als wir zum ersten Mal wegen seiner Überlegungen, am Hoffman Prozess teilzunehmen, miteinander sprachen. „Ich bin 36 und geschieden". Kais Welt war spannend, voller interessanter Zusammenhänge, logischer Erklärungen, wacher Beobachtungen, tiefer Erfahrungen auf dem Selbstfindungsweg. Aber etwas gab es in Kais Welt praktisch nicht – Nähe.
Er hatte immer wieder Beziehungen, aber seine Beziehungen verliefen nach einem ähnlichen Schema: bei einem Seminar, einer Weiterbildung oder einer Party gab es unter vielen Teilnehmern immer eine Frau, die ihn aussuchte, sich ihm näherte, ihn begeisterte und eroberte. „Es ergab sich" dann und nach einigen Schwierigkeiten in der ersten Nacht verließ sie ihn enttäuscht oder blieb mit ihm zusammen, um ihm eine zweite Chance zu geben. Frauen, die blieben, durften ihn später als sehr fürsorglich und wertschätzend erleben, auch durchaus als einen sehr guten Liebhaber. Und doch gingen seine Beziehungen nach einer Weile auseinander. Er ließ sich nie ganz ein und empfand kaum wirkliches Interesse für sie. Er fühlte sich schlecht dabei, er schämte sich, für seine Langeweile und versuchte, diese zu verbergen und wiedergutzumachen, indem er anfing, den Frauen zu „dienen". Danach schämte sich noch mehr für sein Gefühl der Unterwürfigkeit. Dennoch wusste er nicht wirklich, was denn genau an ihm falsch war und woran er noch arbeiten könnte. „Ich bin 36 und geschieden" klang wie: „Ich stehe mitten im Leben und bin ein Versager".
Er hatte eine 8-jährige Tochter, die bei seiner Exfrau geblieben war. Er liebte seine Tochter sehr und litt darunter, dass er scheinbar immer weniger Zugang zu ihr hatte. Aus seinen vielschichtigen Interessen offerierte er dem Mädchen eine Bandbreite von Unternehmung, wenn sie an den Wochenenden zu ihm kam: Aquarium- und Terrariumbesuche, Ausflüge zu einer Rodelbahn oder zum Eislaufen... Aber die Kleine lehnte das meiste ab und wollte nur zu Hause auf dem Sofa mit ihrem Handy in Ruhe gelassen werden. „Was mache ich falsch?" – fragte sich Kai und fand keine Antwort, er machte doch schon alles.
Kai wollte nie so werden, wie sein Vater. Der Vater hatte die Familie verlassen, als Kai 4 Jahre alt war. Er trank ein bisschen viel, arbeitete nicht, roch immer nach Rauch und kümmerte sich wenig um seinen Sohn. Es gab eine bedeutende Szene in Kais Kindheit: als er 3 Jahre alt war und im Winter auf einem Feld mit seinem Vater Eishockey spielte. Kai musste im Tor stehen und der Vater hatte wohl zu hart geschossen und traf Kai mit dem Puck mitten ins Gesicht. Es tat sehr weh und der Junge weinte vor Schmerz. Aber das Furchtbare dabei war nicht so sehr der körperliche Schmerz, sondern dass der Vater sich auf der Stelle umdrehte, eine Zigarette anzündete und enttäuscht wie nebenbei fallen ließ: „Du bist doch nur ein Waschlappen! Aus dir wird eh nichts".
Kai wuchs zu einem Mann heran, der sich sehr bemühte, alles richtig zu machen. Er musste früh Verantwortung übernehmen, da der Vater die Familie verlassen hatte und er nun der einzige „Mann" im Haus war. Die Mutter arbeitete, war übermüdet und wohl auch überfordert und Kai war gezwungen, schnell erwachsen zu werden. Er wollte niemals so werden, wie sein Vater. Er erzählte, dass er ein sehr fürsorglicher und aufmerksamer Mann und Vater für seine Tochter war, auf seine Gesundheit achtete, keinen Alkohol trank und nicht rauchte, sich weiterentwickelte und regelmäßig meditierte. Als ihm seine Frau eines Tages mitteilte, dass sie sich trennen möchte, musste er weinen. Erschütternd war für ihn, so viel Mühle investiert zu haben, anders und besser als seine Eltern zu sein. Und am Ende doch versagt zu haben und seine Familie genauso zerfallen zu sehen, wie er es selbst in seiner Kindheit erlebte.
Ein großes Fragezeichen brachte ihn zum Hoffman Prozess. Er wollte rausfinden, was diese offensichtliche Wiederholung mit ihm zu tun haben konnte, wo er sich doch so Mühe machte, anders zu sein, als seine Eltern. Aus den vielseitigen Vorbereitungsunterlagen, in denen er sein ganzes Leben unter verschiedenen Aspekten beschreiben sollte, kristallisierte sich deutlich eine Kernfrage heraus: „Was mache ich eigentlich im Leben falsch?". Als ob dieser erwachsene Mann wie ein kleiner Junge von den Seiten seiner Biographie aufschaute und eine tiefe Überzeugung über sich selbst zu verstecken versuchte: „Ich BIN falsch. Ich bin ein Versager".
An einem der ersten Tage im Prozess begegneten wir uns im Flur. Die Teilnehmer erarbeiteten in ihren Tagebüchern ihre Muster, ihre sich wiederholende Szenarien, die sie von ihren Eltern unbewusst übernommen hatten oder dagegen rebellierten. Er saß ziemlich lange an seinem Tisch und starrte beim Nachdenken Löcher in den Garten, stand auf und lief auf dem Flur auf und ab. Bei einer erneuten Kurve stieß er dann auf mich. Fast wütend sagte er: „Ich komme nicht weiter! Ich bin ihm in nichts ähnlich! Ich habe nichts, aber gar nichts von ihm übernommen. Ihr sprecht dauernd von übernommenen Mustern. Nichts habe ich übernommen. Ich verstehe es einfach nicht, wo ist dann mein Problem?"
In diesem Moment erinnerte ich mich an die Passage in Kais Vorbereitungsunterlagen mit dem Eishockey: „Als du drei warst, da hat dir doch dein Vater bereits gesagt, dass du kein richtiger Mann seist, ein Waschlappen eben. Dass aus dir eh nichts wird. Du hast es doch geglaubt, oder? Siehst du nun, wie brav du seiner Aussage folgst?" Er starrte mich schockiert an und seine Augen wurden glasig. Es war für ihn bislang selbstverständlich, dass das – die Wahrheit über ihn sei.
Er ging mit sich selbst seit über drei Jahrzehnten so um, wie sein Vater mit ihm umgegangen war: er kritisierte sich, bemängelte vieles, er war nie gut genug für sich, als ob er immer aufs Neue diese Zigarette des Vaters nach dem Spiel anzündete und sich enttäuscht von sich selbst wegdrehte. Und im gleichen Moment aus dem kleinen Jungen heraus zu sich selbst und zu der Welt schrie: „Schaut doch! Ich bin doch ok!" Für alle anderen Menschen versuchte er ein „richtiger" Mann zu sein, ein braver Junge, wie für seine Mutter damals in der Kindheit. In seinen eigenen Augen reichte er sich selbst allerdings nie.
Als er versuchte über sich selbst die schlimmste Überzeugung zu formulieren, wofür er sich eigentlich am meisten schäme, stand auf dem weißen Blatt mit großen Buchstaben: „Ich schäme mich dafür, dass ich ein Waschlappen bin". Als er das so schwarz auf weiß stehen sah, war es plötzlich klar – das ist NUR ein Glaubenssatz, der mit der Realität nichts zu tun hat. Eine Überzeugung, eine Abwertung eben. Ein Baum oder eine Katze – sie leben einfach. Das Bewertungssystem existiert nur in unseren menschlichen Köpfen. Und dieses Bewertungssystem hatte in seiner Entstehung nur einen Sinn: wir wollten in das Bewertungssystem der Menschen passen, die uns am wichtigsten waren, die wir über alles liebten – unsere Eltern. Wenn wir das Gefühl hatten, wir passen in ihre Vorstellungen nicht richtig hinein, so gaben wir uns die größte Mühe, uns besser, klüger, schöner, erfolgreicher, stärker und so weiter anzustellen. Was ist denn schlecht daran? Das ist doch die Grundlage einer Entwicklung. Es ist weder gut noch schlecht, aber wir entwickeln uns aus der Begeisterung heraus anders, als aus dem Druck. Wenn wir der Begeisterung folgen, schöpfen wir aus unseren Aktivitäten Energie. Wenn wir aus dem Beweisen-wollen agieren, verlieren wir unsere Leichtigkeit und Vitalität, werden starr und müde.
Wenn wir uns einmal vorstellen, dass das Koordinatensystem, das wir in der Kindheit gelernt haben, — einfach nur ein System sei, und zwar ein System zweier Menschen, die sich auch irren können — unsere Eltern, wenn wir dieses System also in Frage stellen könnten, könnte sich uns plötzlich ein ganz neues Feld eröffnen. Wenn ich — nicht das bin, was ich dachte, was ich bin, was bin ich dann? Dann beginnt der wirkliche Weg der Selbsterkenntnis außerhalb des kindlichen Gefangen-seins im Koordinatensystem der inneren Eltern. Dieser Weg kann uns Mühe kosten. Und wenn wir müde sind, Neues zu probieren, fallen wir gerne in alte Strukturen zurück. Doch wenn wir zu lange in alten Strukturen bleiben, geschieht keine Weiter-Entwicklung. Wir können uns nicht am Alten orientieren und hoffen, dass etwas Neues dabei rauskommt. Aus den alten Zusammenhängen auszubrechen und neue zu erkennen und zu erschaffen — nennt sich in der Wissenschaft Innovation. Im emotionalen Geschehen nennt sich das wohl Verantwortung, Erwachsenwerden, vielleicht sogar Weisheit.
War geschah mit Kai? Er schrieb mir vor ein paar Monaten, dass sich etwas Grundlegendes im Leben veränderte hatte. Eine Perspektive. Nicht so sehr eine Perspektive, wohin er sich entwickeln kann, was er noch lernen könnte oder ähnliches. Eher eine neue Perspektive, mit der er ins Leben schaute. Dass er bis dahin wohl eher sah, wie ihn andere sehen, und sich selbst durch die Interpretationen anderer bewertete, sowohl seine Mängel als auch seinen Erfolg.
„Ab jetzt, — schrieb er, — schaue ich selbst".